Über das auswendige Instrumentalspiel

Der folgende Text stellt keine Anleitung zum Auswendiglernen von Musikstücken dar, denn das Auswendigspielen zu erlernen, ist Bestandteil des Instrumentalunterrichts. Meine Ausführungen dienen lediglich dazu, einen Einblick in die Arbeitsweise zu gewähren, die ein Musiker anwenden kann, um einen musikalischen „Text“ zu memorieren und die zur Darstellung dieses „Textes“ notwendigen Spielbewegungen zu verinnerlichen. Wie der Musikschüler im Einzelfall das auswendige Spielen trainieren kann, sollte er mit seinem Lehrer im Unterricht erarbeiten. Dieser wird Wege finden, die den Voraussetzungen, die der einzelne mitbringt, entsprechen, also seiner Person und seiner individuellen Begabung angemessen sind. So wird der Schüler schnell zu einem Erfolgserlebnis kommen.

Der auswendige musikalische Vortrag durch einen Künstler, der als Solist die Bühne betritt, wird von den meisten Konzertbesuchern als etwas Normales, aber trotzdem Bemerkenswertes angesehen. Diese Art zu musizieren ist überall da zu finden, wo entweder wirklich ein einzelner vor Publikum tritt oder wo ihm im Zusammenspiel zumindest eine herausragende Rolle zukommt, wie einem Solisten, der von einem Symphonieorchester begleitet wird. Im Bereich der populären Musik gibt es Vergleichbares. Hier steht ein „Frontman“ vor der Band und singt oder spielt meistens auswendig. Auch ein Liedermacher, wie z. B. Reinhard Mey, begeistert die Zuhörer ganz alleine, ohne Begleitband und ohne Noten.

Der auswendige Vortrag ist für den Musiker aber kein Selbstzweck, sondern dieser macht ihn von den Noten unabhängig, damit er auf der Bühne freier agieren kann. So ist es möglich, dass er seine ganze Aufmerksamkeit der Gestaltung der Musik widmet, ohne diese ablesen zu müssen. Auf diese Weise ist es für ihn auch leichter, mit den Augen seine Spielbewegungen auf dem Instrument zu kontrollieren. Das Auswendigspiel belastet den Künstler also nicht zusätzlich, sondern entlastet ihn und verhilft ihm zu mehr Sicherheit bei seinem Vortrag, wenn er die Musik zuverlässig im Gedächtnis gespeichert hat. Voraussetzung hierfür ist, dass die musikalischen Informationen und die Bewegungsabläufe der musizierenden Hände in mindestens drei verschiedenen Bereichen des Gehirns verankert sind:

  1. Automatisierung der Bewegungsabläufe im „motorischen Gedächtnis“

  2. Rationales Erfassen der Musik durch eine vorausgehende Analyse welche möglichst viele Aspekte berücksichtigt.( Ist der „logische“ Aufbau der Musik intellektuell nachvollzogen, wird dieser auch im Gedächtnis besser verankert.)

  3. Schließlich wird die Musik in der Vorstellung wieder in ein vollständiges Notenbild zurückversetzt. Die Noten werden also beim Vortrag innerlich mitgelesen, nachdem sie im „visuellen Gedächtnis“ gespeichert wurden. Manche Menschen verfügen über ein fotografisches Gedächtnis, welches ihnen erlaubt, das Notenbild mit diesem quasi abzufotografieren. Wem die Visualisierung des Notenbildes nicht gelingt oder schwerfällt, kann versuchen, die Griffbilder seiner spielenden Hände im Gedächtnis zu speichern. Er merkt sich die durch die verschiedenen Bewegungsabläufe entstehende „Choreografie“ der Hände und versucht, das durch Übung entstehende „Fingerballett“ auch mit geschlossenen Augen abzurufen.

Das auswendige Spielen sollte immer von einer Vorstellung des Gesamtklanges der Musik begleitet werden. Auch ohne sich jederzeit über die genauen Noten eines Klanges bewusst zu sein, wird das Ergebnis des eigenen Spiels mit diesen im Gedächtnis gespeicherten Klang-Erinnerungen verglichen und bei Stellen, die „komisch“ oder ungewohnt klingen, sucht man beim Üben direkt nach der Ursache hierfür. Wurde z.B. statt Dur Moll gespielt, ein Vorzeichen übersehen,eine Note zu kurz gehalten oder eine Pause nicht beachtet? Das notwendige Bewusstsein für den Gesamtklang entsteht normalerweise beim Üben, wenn man das Übe-Ergebnis bewusst wahr- und aufnimmt.

Es ist eine Missverständnis zu glauben, der Musiker merke sich die einzelnen Töne einer Komposition. Vielmehr erinnert er sich an Tonfolgen, Melodien, harmonische Fortschreitungen und Gegenstimmen, die er vorher verinnerlicht hat. Auch ein Schauspieler merkt sich nicht die einzelnen Buchstaben seines Textes, sondern ganze Wörter, Sätze und Sinnzusammenhänge. Vergleichbar ist dies mit einem Film, der mit allen Details vor dem inneren Auge vorbeiläuft und dessen einzelnen Schnitte und Szenenfolgen memoriert wurden. Die Szenen sind in unserem Falle die musikalischen Abschnitte, die durchaus auch, wie schon ausgeführt, als vollständiges Notenbild in der Vorstellung des Musizierenden erscheinen können. Die in der Vorstellung gebildeten Klänge werden also in „gesehene“ Noten zurückverwandelt. Diese intensive analytische Arbeit mit der Musik setzt auch eine umfassende Kenntnis der musiktheoretischen Grundlagen voraus.

Das Anhören einer Aufnahmen des zu erlernenden Stückes kann ebenfalls hilfreich sein.Mit dieser Art der klanglichen Verinnerlichung von Musik sind allerdings auch Gefahren verbunden, da man so auch Ungenauigkeiten, künstlerische Freiheiten und Eigenheiten eines Vortrags oder gar falsche Töne mit „abspeichert“. Ein weiterer Nachteil ist, dass die künstlerische Gestaltung eines anderen kopiert und die eigene Interpretation damit vernachlässigt wird.

Nun zurück zu den drei wichtigsten Möglichkeiten, Musik im Gedächtnis zu behalten:

Die Automatisierung von Bewegungsabläufen im „motorischen-Gedächtnis“ kennen die meisten Musiker sehr gut. Dadurch, dass beim Üben das Stück oder einzelne Teile daraus immer wieder durchgespielt werden, schleifen sich die Bewegungsabläufe im „muskulären-Gedächtnis“ ein (Sofern ein vorher festgelegter Fingersatz konsequent beibehalten wird.) und verselbstständigen sich. Oft kommen Schüler in den Unterricht und weisen darauf hin, dass sie ein neues Stück schon nach kurzer Zeit auswendig spielen können. Für mich ist in diesem Moment klar, dass die Musik zu Hause häufig geübt wurde und die beschriebene Automatisierung durch Wiederholung bereits stattgefunden hat. Es ist wichtig, diese Leistung zu würdigen, gleichzeitig aber darauf hinzuweisen, dass es notwendig ist, die Musik auch weiterhin mit Blick in die Noten spielen zu können, damit die automatisierten Bewegungsabläufe immer wieder erneut kontrolliert und mit den Noten abgeglichen werden, denn sehr leicht werden in dieser Arbeitsphase sonst auch falsche Töne, Rhythmen und Bewegungsabläufe im Gedächtnis gespeichert. Außerdem ist es gut, die Musik zusätzlich auch noch auf andere Arten in der Erinnerung zu verankern.

Auf zwei weitere Möglichkeiten auswendig zu lernen soll jetzt noch einmal verwiesen werden.

Zunächst ist dies die analytische Betrachtung der Musik. Diese richtet sich zuerst einmal auf die musikalische Form des Stückes. Wie viele Teile und Abschnitte weist es auf? Wo gibt es Wiederholungsteile? Sind die Wiederholungsteile notengetreu oder gibt es Abweichungen? (Oft werden hier musikalische Steigerungen einkomponiert oder die Schlüsse unterschiedlich gestaltet, um in den nächsten Abschnitt überzuleiten.) Auch die Suche nach einer Grundidee der Komposition gehört zur Analyse eines Musikstückes. Ist dieser Grundgedanke eine Melodie, so können wir ihre Eigenschaften untersuchen. Liegt sie in der Ober- oder Unterstimme? Ist ihr Charakter eher volksliedhaft oder anspruchsvoller, vergleichbar einem Kunstlied oder vielleicht tänzerisch? Es sollten auch die in der Komposition verwendeten Akkorde und Akkordfortschreitungen näher betrachtet werden. Handelt es sich vorwiegend um einfache Dur- oder Mollakkorde, oder werden viele erweiterte Klänge mit hinzugefügten Septimen, Nonen und Sexten oder chromatisch veränderten Tönen verwendet? - In diesem Fall handelt es sich wahrscheinlich um ein Musikstück aus der Romantik, möglicherweise aber auch um ein modernes Stück. Enthält eine Musik keine erweiterten Akkorde, dafür aber viele terzenlose Schlussklänge, so deutet dieses auf eine Musik aus dem 16.Jhd. hin. Über die Betrachtung der Konstruktion einer Komposition kann also auf deren Entstehungszeit geschlossen werden. Mit dieser sollten wir uns dann eingehender beschäftigen, ihre charakteristischen Merkmale benennen und die Stellung „unseres“ Komponisten in seiner Zeit hinterfragen. Auch das hilft dabei, sich ein Bild von der Musik machen zu können, die man spielt, und dieses wiederum trägt dazu bei, die Musik besser in Erinnerung zu behalten und der Entstehungszeit gemäß zu interpretieren.

Letztlich ist es notwendig, sich über die Bedeutung jedes einzelnen Tones klarzuwerden.Steht er auf betonter oder unbetonter Zeit im Takt? Gehört er zur Melodie, zur Begleitstimme oder zum Bass? Handelt es sich bei ihm um einen Ton zur Verzierung der Melodie, einen diatonischen oder chromatischen Durchgang oder vielleicht um einen Füllton, der eine Zweistimmigkeit zum Akkord vervollständigt, vielleicht aber auch nur zur Verstärkung eines Klanges hinzugefügt wird? Wir sehen: Jeder Ton hat im Zusammenspiel einer Komposition eine Bedeutung, die man benennen kann. Je klarer wir diese Bedeutung beschreiben, desto sicherer bleibt dieser Ton als Bestandteil einer größeren Sinneinheit im Gedächtnis haften. Der enge Zusammenhang zwischen analytischer Betrachtung und der visuellen Speicherung in der Erinnerung wird hier deutlich.

Diese ist denn auch der dritte Anker, um die Musik im Gedächtnis festzumachen.  Auch wer nicht über die Gabe eines „fotografischen Gedächtnisses“ verfügt, kann über den beschriebenen Weg der detaillierten Analyse dahin gelangen, sich ein Bild, ein Notenbild der Musik in der Vorstellung zu machen. Das heißt, beim Spiel wird versucht, wie schon beschrieben, die gespielten Töne in der Imagination in ein Notenbild zurück zu verwandeln.  Dieses kann auch ohne Instrument, also nur in der Vorstellung, geschehen. Versuchen Sie sich an den Klang der Musik zu erinnern und bilden Sie in der Vorstellung das dazugehörige Notenbild. Diese Form des rein mentalen Übens können wir unabhängig vom Instrument an jedem Ort ausüben.

Das Auswendigspiel ist also das Ergebnis gut durchdachter Bewegungsabläufe,die im Fingersatz festgehalten und die durch häufige Wiederholung automatisiert werden, dem längsten Teil der Übezeit, und darüber hinaus einer langen und intensiven Auseinandersetzung mit den Inhalten eines Musikstückes, um zu dem Ziel eines sicheren, auswendigen Vortrags zu gelangen.